M. Grütter: Verworfene Frauenzimmer

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Titel
"Verworfene Frauenzimmer". Geschlecht als Kategorie des Wissens vor dem Strafgericht


Autor(en)
Grütter, Melanie
Reihe
GenderStudies
Erschienen
Bielefeld 2017: Transcript – Verlag für Kommunikation, Kultur und soziale Praxis
Anzahl Seiten
282 S.
von
Eva Keller

Weibliche Gewalttaten und insbesondere Morde sind selten. Entsprechend lösen die Täterinnen stets eine starke öffentliche Faszination aus, die oft durch eine umfassende Boulevard-Berichterstattung zusätzlich angeheizt wird. Dieses Phänomen rückt Melanie Grütter in ihrer Dissertation in einer historischen Perspektive in den Fokus. Anhand des Ausnahmefalls von Gewaltmorden durch eine weibliche Täterin geht sie der Frage nach, welche Normen und Stereotypen in der Auseinandersetzung mit Geschlecht und Kriminalität aktiviert werden. Dass das Thema ein sehr aktuelles ist, macht Grütter dabei bereits in ihrer Einleitung deutlich: Am Beispiel von Fällen wie desjenigen der Amerikanerin Amanda Knox, die 2007 in Italien des Mordes an einer Kommilitonin verdächtigt wurde, skizziert die Autorin eine Reihe jüngerer medialer Phänomene, die weibliche Mörderinnen zum Gegenstand haben. Dabei zeigt sie die Persistenz eigentlicher Archetypen des weiblichen Bösen in der Berichterstattung auf, wie «Hexe», «Monster» oder «Vamp» (S. 18). Das damit skizzierte Bedürfnis, der Unvorstellbarkeit weiblicher Gewaltmorde dadurch zu begegnen, indem die Täterinnen bestimmten Stereotypen zugeordnet werden, bildet die Ausgangslage der Studie.

Anhand von elf Mordfällen aus den Jahren 1900–1936, deren Akten im Berliner Kriminalkommissariat liegen, analysiert Grütter die Rolle von Geschlecht als ordnungsbildende Kategorie in Diskursen über Gewalt und Kriminalität. Im kriminologischen Diskurs ist insbesondere die gewalttätige Kriminalität stets männlich konnotiert, so dass kriminelle Frauen im Allgemeinen und Gewaltmörderinnen im Besonderen das «Andere», die Abweichung von der wahrgenommenen Norm sind. Dies gilt umso mehr, als es sich bei den von Grütter untersuchten Fällen nicht um die typisch weiblichen Verbrechen Kinds- oder Gattenmord handelt, sondern um Morde ausserhalb des familiären Beziehungsrahmens – die Täterinnen weichen also im doppelten Sinne von der Norm ab. In einer historischen Diskursanalyse untersucht die Autorin, auf welche Art und in welcher Form diese Abweichung konstruiert wird, was für ein Bild also von den Angeklagten gezeichnet wird. Dabei geht es ihr nicht nur darum zu zeigen, wie sich bestimmte Zuschreibungen und Stereotypisierungen im Laufe der Zeit gewandelt oder gehalten haben. Die Analyse dieser historischen Konstruktion von Devianz erlaubt es auch aufzuzeigen, welche normativen Vorstellungen zu Geschlecht, Kriminalität, Gewalt und Macht existierten. Um hierfür ein möglichst umfassendes Bild zu erhalten, nutzt die Autorin für ihre Analyse nicht nur die vorhandenen Fallakten, sondern zieht auch kriminologische Diskurse und juristische Praxis der Zeit sowie ein «Alltagswissen» (S. 77) aus Literatur, Presse und Filmen hinzu.

Da die untersuchten Mordfälle unterschiedlich umfangreich dokumentiert sind, befasst sich Grütter im empirischen Teil ihrer Studie vor allem mit vier Fällen beziehungsweise Täterinnen, für die unter anderem psychiatrische Gutachten sowie Vernehmungs- und Verhandlungsprotokolle vorliegen. Überzeugend arbeitet sie Narrative und Typologien heraus, welche die einzelnen Fälle prägten. Die Analyse ist dabei in verschiedene Unterkapitel unterteilt, wobei immer wieder auch stärker theoretisch ausgerichtete grundlegende Ausführungen, beispielsweise zum Expertentum, zur Zeugenschaft oder zur Verbrecherfotografie, Platz finden. Dies bietet zwar grundsätzlich einen beträchtlichen Mehrwert für die Analysen der einzelnen Fälle, erschwert jedoch die Lektüre. Der Plausibilität von Grütters Ausführungen tut dies aber keinen Abbruch: Der Autorin gelingt es, anhand der untersuchten Fälle die Wirkmächtigkeit und Persistenz bestimmter Attribute berzeugend darzulegen – konkret beispielsweise die Zuschreibung sexuell abweichenden Verhaltens, insbesondere homosexuelle Beziehungen, das Absprechen weiblicher Attribute oder auch die Überzeugung, dass bestimmte Täterinnen zu ihren Taten verführt worden sein müssten. Gerade die Verknüpfung mit zeitgenössischem Kulturgut ermöglicht dabei einen umfassenden und spannenden Einblick in die Genese der entsprechenden Stereotypisierungen. Im Fazit spitzt Grütter ihre Feststellungen anhand einer US-amerikanischen Serienmörderin der 1990er Jahre, Aileen Wuornos, ein letztes Mal zu und verdeutlicht so erneut die Beständigkeit vergeschlechtlichter Beurteilungen von Kriminalität.

Melanie Grütter gelingt es mit ihrer Studie, den Blick auf einen bisher wenig erforschten Aspekt der Kriminologie- und Kriminalitätsgeschichte zu öffnen. Damit legt sie – nicht zuletzt dank ihrer ausführlichen theoretischen Überlegungen – auch eine Basis für weitere Forschung zum Thema weiblicher Kriminalität und vor allem auch in Bezug darauf, wie Weiblichkeit innerhalb von Strafrechtssystemen verhandelt und definiert wird.

Zitierweise:
Eva Keller: Melanie Grütter: «Verworfene Frauenzimmer». Geschlecht als Kategorie des Wissens vor dem Strafgericht, Bielefeld: transcript, 2017. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 69 Nr. 3, 2019, S. 475-476